Das «gute Sterben» möglich machen
Noch keine Einigkeit über ein Palliative-Care-Konzept
Verfügt das Personal in Spitälern und Pflegeheimen über genug Wissen und Erfahrung, um Fragen der künstlichen Lebensverlängerung bei unheilbaren Kranken anzugehen und sterbende Patienten zu betreuen? Nein, sagen die Initianten des kantonalen Palliative-Care-Konzepts, die mit der Einrichtung von Palliativzentren die Möglichkeit des «guten Sterbens» ins Bewusstsein rücken wollen. Die Idee stösst auf Skepsis.
In der Klinik für Radioonkologie des Universitätsspital Zürich (USZ) stehen jenen krebskranken Patienten sechs Betten zur Verfügung, die sich trotz High-Tech-Medizin auf die letzte Lebensphase einstellen müssen. Das dort arbeitende interdisziplinäre Team von Ärzten, Pflegenden, Psychologen, Sozialarbeitern und Seelsorgern versucht, solchen Patienten mit palliativen, also lindernden Massnahmen eine möglichst gute Zeit bis zum Sterben zu gewähren, wobei der Patient seine letzte Lebensphase in seiner bevorzugten Umgebung, also auch zu Hause, verbringen können soll. Zentral ist die Suche nach Schmerztherapien, deren Risiken mit Blick auf die Linderung des akuten körperlichen Leidens bewertet werden. Laut Urs Martin Lütolf, Direktor der Klinik für Radioonkologie, umfasst die Therapie aber ebenso das Eingehen auf die Wünsche, Sorgen und Ängste der Patienten, die im Hinblick auf den nahenden Tod nicht nur physischer und psychischer, sondern oft auch organisatorischer Natur sind. Je nach Wunsch des Betroffenen werden die Angehörigen ins Gespräch einbezogen.
Passive Sterbehilfe als Option
Wie Lütolf sagt, sind viele Patienten der Klinik für Radioonkologie Mitglied der Sterbehilfeorganisation Exit. Doch nur ganz selten sei der assistierte Suizid ein Thema, und nur wenige Male habe sich in den letzten Jahren ein Patient verabschiedet, um sich zu Hause mit einer von Exit organisierten tödlichen Substanz das Leben zu nehmen. Für den Onkologen liegt der Grund der geringen Bedeutung von Exit in der Stärke der Palliative Care: Steht bei der Betreuung von Patienten mit einer weit fortgeschrittenen Krankheit nicht die Lebensverlängerung, sondern das Gespräch über Möglichkeiten der passiven Sterbehilfe (Abbruch von lebensverlängernden Massnahmen) und deren erträgliche Gestaltung im Vordergrund, erfahren die Betroffenen, dass «ein gutes Sterben» möglich ist.
Die Schweiz sei bei der Entwicklung und Umsetzung von palliativen Methoden im Hintertreffen, weil diese zu lange im Schatten der phantastischen Fortschritte in der kurativen Medizin gestanden seien, ist Lütolf überzeugt. Als Mitglied des Ethik-Forums des USZ – eines interdisziplinär zusammengesetzten Gremiums zur ethischen Entscheidungsfindung in der Spitzenmedizin unter der Leitung von Ruth Baumann-Hölzle vom privaten Institut Dialog Ethik – hat er sich deshalb für die Idee einer Palliativstation engagiert und diese mit Unterstützung der Pflege und der Spitalleitung umgesetzt.
Spezielle Palliativzentren umstritten
Das Ziel des guten Sterbens werde in vielen Schweizer Gesundheitsinstitutionen noch zu wenig stark gewichtet, sagt Lütolf in Übereinstimmung mit Roland Kunz, Co-Präsident von «Palliative Care – Netzwerk Zürich» und Leiter des Pflegezentrums des Spitals Limmattals, wo sich ebenfalls eine Palliativstation befindet. Die beiden Ärzte haben aus diesem Grund zusammen mit dem Spital Affoltern das Konzept «Palliative Care im Kanton Zürich» initiiert und sich an der Erarbeitung eines Entwurfs beteiligt. Wie Marianne Delfosse, Mediensprecherin der Gesundheitsdirektion, betont, ist dieser die Basis für ein noch ausstehendes definitives Konzept. Gemäss Grobkonzept soll eine angemessene regionale Versorgung mit stationären Palliative-Care-Angeboten für Patienten aller Altersstufen realisiert werden. Angestrebt wird ein mehrstufiges System, das nach Möglichkeit auf bereits bestehende Institutionen zurückgreift. Für besonders komplexe Fälle sind Palliativzentren vorgesehen. Mit verschiedenen Institutionen – darunter das Zürcher Lighthouse – sollen Leistungsaufträge vereinbart werden.
Am USZ, aber auch an den kleineren Spitälern sind spezielle Palliativstationen umstritten. «Palliative Care sollte ein integrierter Bestandteil für alle Patienten mit unheilbaren behandlungsbedürftigen Krankheiten sein», hält die Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle fest. Medizin und Pflege müssten generell die Haltung von Palliative Care einnehmen. Roland Kunz teilt diese Meinung. Doch ist er wie Lütolf überzeugt, dass es für hochkomplexe Fälle klar abgegrenzte Orte braucht, wo diese mit dem dafür nötigen pflegerischen und psychologischen Wissen betreut werden. Esther Bächli, Chefärztin der medizinischen Klinik des Spitals Uster, bezeichnet diese Idee dagegen als «ineffektive Ressourcenallokation». Am Spital Uster werde bereits heute die Hälfte der Patienten palliativ behandelt, berichtet Bächli, die zuvor am USZ gearbeitet hat. Auch in Uster werde mit einem Therapiekonzept gearbeitet, in das Pflegende, Angehörige wie Seelsorger einbezogen seien. Die Frage nach Abbruch oder Fortsetzung von lebenserhaltenden Massnahmen, zu denen auch die künstliche Ernährung gehört, werde trotz Zeit- und Kostendruck eingehend besprochen; der Wille des Patienten habe grösstes Gewicht. Wenn ein Patient im Sterben liegt, erhält er laut Bächli eine interdisziplinäre individuelle Betreuung in einem Einzelzimmer. Dauert diese Phase mehrere Wochen, wird für den Patienten eine spitalexterne Lösung gesucht. Diese umfasst Betreuung zu Hause, private Institutionen oder Pflegeheime.
Palliative Care braucht ein neues Gesicht
Genau dieser Mechanismus ist für Roland Kunz unhaltbar: Dass Sterbende, die vor allem psychosozial intensive Begleitung brauchen, in teuren Kliniken zu einem Akuttarif behandelt werden und gleichzeitig die Pflegeheime mit bescheidenen Langzeitpflegetarifen die oft aufwendige palliative Betreuung übernehmen müssen, leuchtet dem Leiter des Pflegezentrums des Spitals Limmattal nicht ein. Für die Begleitung eines frisch operierten sterbenden 40-jährigen Familienvaters sei die Demenzstation des Pflegezentrums ungeeignet. Kunz macht die Erfahrung, dass das medizinische Personal mit einer normalen Grundausbildung bei solchen komplexen Fällen an die Grenzen kommt. Völlig am Bedürfnis der Patienten und Angehörigen vorbei ziele auch das Verhalten der Hausärzte: Wenn ein sterbender Patient zu Hause nicht mehr betreut werden könne, werde er auf eine Notfallstation eingewiesen, wo den Betroffenen ein akutmedizinisches Prozedere erwarte.
«Für die Öffentlichkeit braucht Palliative Care ein neues Gesicht», umschreibt Christian Hess, ärztlicher Leiter des Spitals Affoltern a. A., den Sinn der palliativen Spezialeinrichtungen. Tatsache sei, dass in den meisten Spitälern das Sterben einen tiefen Stellenwert habe. «Für die Begleitung von Patienten in der allerletzten Lebensphase braucht es kein Spital, sondern Orte, die wie ein Zuhause sind.» Palliative Care sei eine Antwort auf das Unbehagen gegenüber dem technokratischen Umgang mit dem Sterben. Im Zentrum dieser in der Öffentlichkeit noch wenig bekannten Medizin stünden ganz andere Werte. Ein bis drei Palliativzentren im Kanton würden genügen. Auf keinen Fall dränge sich deshalb der Subtitel Palliativmedizin auf, betont der Chefarzt. Doch manchmal brauche es einen Kristallisationspunkt zur Verbreitung einer neuen Haltung.
Quelle: www.nzz.ch