Sanfter Tod

Ein sanfter Tod
(1964)

Sie glaubte an den Himmel; doch trotz ihres Alters, ihrer Gebrechen und Beschwerden war sie ungestüm der Erde verhaftet und empfand vor dem Tode ein animalisches Grauen.

Meiner Schwester hatte sie von einem Alptraum erzählt, der immer wiederkehrte: "Ich werde verfolgt, ich laufe und laufe und stoße gegen eine Mauer; ich muß über diese Mauer springen und weiß nicht, was dahinter ist; ich habe Angst. Der Tod selbst erschreckt mich nicht: ich habe Angst vor dem Sprung", hatte sie zu meiner Schwester gesagt. Als sie auf dem Fußboden kroch, glaubte sie, der Augenblick für den Sprung sei gekommen. (…)

Am Sonntag hatte sie mittags Kartoffelpüree gegessen, das nicht durchgekommen war (in Wirklichkeit hatten die eintretenden Metastasen sie geschwächt), und im Wachzustand einen langen Alptraum gehabt: "Ich lag in einem blauen Tuch über einem Loch", erzählte sie. "Deine Schwester hielt das Tuch, und ich bat sie: ‘Laß mich nicht in das Loch fallen’ … ‘Ich halte dich fest, du wirst nicht hineinfallen’, erwiderte Poupette." Sie hatte die Nacht auf einem Sessel verbracht, und Mama, die sonst immer um ihren Schlaf besorgt war, sagte zu ihr: "Schlaf nicht; laß mich nicht davongehen. Wenn ich einschlafe, dann weck mich: laß mich nicht davongehen, während ich schlafe." Plötzlich – so erzählte meine Schwester – schloß Mama erschöpft die Augen. Ihre Hände verkrallten sich in die Bettücher und sie rief: "Leben, leben!"(…)

Nachts hatte Mama wieder Alpträume: "Ich werde in einen Kasten gelegt", sagte sie zu meiner Schwester. "Ich bin da, aber im Kasten. Ich bin ich und doch nicht mehr ich. Männer tragen den Kasten weg!" Sie sträubte sich: "Laß sie mich nicht wegtragen!" Lange ließ Poupette ihre Hand auf Mamas Stirn liegen. "Ich verspreche dir, daß sie dich nicht in den Kasten legen werden." Sie verlangte eine weitere Dosis Equanil. Als Mama endlich von ihren Visionen erlöst war, fragte sie Poupette: "Was bedeutet das eigentlich, dieser Kasten und diese Männer?" "Das sind Erinnerungen an deine Operation: Krankenpfleger tragen dich auf einer Bahre weg." Mama schlief ein. Doch am nächsten Morgen lag in ihren Augen die ganze Traurigkeit wehrloser Tiere.

"Ich bin so müde", seufzte sie. Sie hatte eingewilligt, am Nachmittag Marthes Bruder, einen jungen Jesuiten, zu empfangen. "Soll ich ihm absagen?" "Nein. Deiner Schwester wird es Spaß machen; sie werden sich über Theologie unterhalten. Ich werde die Augen schließen und brauche nicht zu sprechen." Mittags aß sie nichts. Den Kopf auf die Brust geneigt, schlief sie ein. Als Poupette die Tür aufstieß, glaubte sie, alles sei zu Ende. Charles Cordonnier blieb nur fünf Minuten; er erzählte von den Essen, zu denen sein Vater Mama jede Woche einlud. "Ich hoffe, Sie an einem der nächsten Donnerstage am Boulevard Raspail wiederzusehen." Sie sah ihn ungläubig und bekümmert an. "Du glaubst also. ich komme wieder hin?"
Niemals hatte ich an ihr eine so unglückliche Miene gesehen: an dem Tage ahnte sie, daß sie verloren war.

Simone de Beauvoir