Der Engel des Todes

Der Engel des Todes

Es war einmal ein altes Ehepaar, das hatte einen Sohn. Der Vater war Schreiner, der Sohn war Schneider. Eines Tages bat der Sohn seinen Vater um die Erlaubnis, eine Reise nach einem weit entfernten Heiligtum zu unternehmen. Als er nun unterwegs war, traf er einen Derwisch, und die beiden wurden Reisegefährten. Eines Tages ließen sie sich zum Mittagessen nieder, und der Jüngling lud den Derwisch ein, sein Essen mit ihm zu teilen.
Der Derwisch lehnte es ab, aber der Jüngling bestand nochmals darauf, so daß der Derwisch schließlich notgedrungen mitaß. Als der Derwisch nach einigen Tagen seinen Weg allein fortsetzen wollte, fragte ihn der Jüngling: "Wie heißt du? Woher kommst du und wohin gehst du?" Der Derwisch erwiderte: "Mein Name ist schrecklich. Wenn ich ihn dir sage, wirst du Angst bekommen." – "Nein", entgegnete der Jüngling, "warum sollte ich mich fürchten. Ich werde keine Angst haben, denn ich habe das Salz mit dir geteilt und ich weiß, daß mir von dir kein Unheil zustoßen wird." Da sprach der Derwisch: "Mein Bruder! Ich hin Azra’il, der Todesengel." – "Wenn du wirklich Azra’il bist," meinte da der Jüngling, "sage mir, wann ich denn sterben werde." – "Dein Tod«, sprach der Derwisch, "wird in deiner Hochzeitsnacht sein." – "Gut", meinte der Jüngling, und beide verabschiedeten sich voneinander. Vorher aber bat der Jüngling den Derwisch noch: "Mein Bruder! Bei dem Salz, welches wir zusammen gegessen haben! Wenn du kommst, um meine Seele zu holen, dann zeige dich mir in deiner jetzigen Gestalt." Dem stimmte der Derwisch zu.

Der Jüngling setzte seine Reise fort. Als er wieder nach Hause kam, wollten seine Eltern ihn verheiraten. Er aber wehrte ab mit den Worten: "Ich will keine Frau." So ging es eine Weile, bis der Sohn dreißig Jahre alt wurde. Da sprach sein Vater zu ihm: "Mein Söhnchen! Mittlerweile ist mein Bart weiß geworden. ich würde dich gerne als Bräutigam sehen!"
Der Sohn aber erwiderte: "Mein Vater! Wünsche dir nicht, mich als Bräutigam zu sehen; denn wenn ich heiraten sollte, werde ich in der Hochzeitsnacht sterben." Hierauf erzählte er ihm sein Erlebnis mit Azra’il. Der Vater aber warf ein: "Was sind das für Worte! Was erzählst du mir denn da! Erstens einmal kann man Azra’il nicht sehen; und zweitens, wenn er vom Himmel herabsteigen sollte, um deine Seele zu holen, dann werde ich meine Seele statt dessen anbieten." Und ebenfalls boten seine Mutter und seine Schwester an, ihre Seelen statt seiner zu geben.

Auf jeden Fall wurde die Hochzeit vorbereitet und die Hochzeitsnacht fand statt. Aber gerade, als Braut und Bräutigam die Hände ineinanderlegten, öffnete sich die Tür, der Derwisch trat ein und sprach: "Habe ich dir nicht gesagt, Jüngling, du sollest nicht heiraten, denn deine Hochzeitsnacht werde die letzte Nacht deines Lebens sein?" – "Gewähre mir eine kurze Frist", erwiderte der Jüngling, "damit ich meine Eltern rufen kann." Er rief sie beide, und als sie gekommen waren, erinnerte er sie an ihr Versprechen: "Ihr habt doch versprochen, daß ihr zu dem Zeitpunkt, wenn Azra’il komme, bereit seid, eure Seele anstelle meiner zu geben. Hier nun ist Azra’il gekommen. Gebt ihm eure Seele!" Da bot der Vater sich an: "Komm, Azra’il, und nimm meine Seele!" Sogleich machte Azra’il sich daran, die Seele des Vaters aus seinem Körper zu ziehen. Er hatte sie schon bis zur Brust herausgezogen, da rief der Vater: "Azra’il! Es ist doch zu schwer, die Seele herzugeben. Nimm lieber seine eigene Seele!" Gerade als Azra’il den Sohn zum Schlafen legte, rief nun die Mutter:
"Der Bräutigam ist doch noch so jung, nimm statt seiner lieber meine Seele!" Also machte sich Azra’il daran, die Seele der Mutter herauszuziehen. Aber als er sie schon bis zur Kehle herausgezogen hatte, rief die Mutter auch: "Es ist so schwer! Ich will lieber auf der Welt bleiben. Nimm doch seine eigene Seele!" Da lief aber sogleich die Braut herbei und sprach: "Wenn heute der Bräutigam stirbt, wird man morgen zu mir sagen, mein Schritt bringe Unheil. Also nimm gleich heute meine Seele, damit ich Ruhe finde vor den Anschuldigungen der Leute."
So machte sich Azra’il nun daran, die Seele des Mädchens herauszuziehen. Aber gerade, als er sie schon bis zur Nase herausgezogen hatte, ertönte eine Stimme vom Himmel, die rief: "Laß sie beide in Frieden! Wegen der Opferbereitschaft der Braut schenke ich ihnen beiden dreißig Jahre Leben zusammen!"
So beendete Gott alles mit Wohlgefallen.

Persisches Märchen
(Nacherzählt von Maschdi Galin Chanom)

L’épitaphe

L’épitaphe

J’ai vécu dans ces temps et depuis mille années
Je suis mort. Je vivais, non déchu mais traqué.
Toute noblesse humaine étant emprisonnée
J’étais libre parmi les esclaves masqués.

J’ai vécu dans ces temps et pourtant j’étais libre.
Je regardais le fleuve et la terre et le ciel
Tourner autour de moi, garder leur équilibre
Et les saisons fournir leurs oiseaux et leur miel.

Vous qui vivez qu’avez-vous fait de ces fortunes?
Regrettez-vous les temps où je me débattais?
Avez-vous cultivé pour des moissons communes?
Avez-vous enrichi la ville où j’habitais?

Vivants, ne craignez rien de moi, car je suis mort.
Rien ne survit de mon esprit ni de mon corps.

Robert Desnos

 

 

Epitaph

Ich bin der Tote, der durch jene Zeiten schritt.
Vor tausend Jahren. Aufrecht und gejagt.
Das Menschliche, von Mauern war‘s umragt.
Vermummte Sklaven rings – ich lebte mit.

In jenen Zeiten lebt ich – lebt ich frei.
Mein Auge sah die Erde, es sah zum Himmel auf,
ich sah, wie alles kreiste, ich sah den Wasserlauf.
Die Blüte gab den Honig, der Vogel zog vorbei.

Mit alledem, ihr Menschen, was fingt ihr damit an?
Die Zeit, in der ich’s schwer hatt’, tragt ihr sie noch im Sinn?
Sät ihr die Saat gemeinsam und erntet jedermann?
Ist sie durch euch jetzt schöner, die Stadt, aus der ich bin?

Ihr Lebenden, ich leb nicht, ihr braucht nicht bang zu sein.
Mein Leib, er lebt nicht weiter, mein Geist nicht, nichts, was mein.

Übertragung: Paul Celan

Lobgesang

Lobgesang nach: Befiehl du deine Wege
(1920)

I
Befiehl du deine Wege
Dem alles Helfen frommt
Der allertreuesten Pflege
Des, der wohl morgen kommt
Wer Wolken, Luft und Winden
Genug hat zugesehen
Der wird es leicht verwinden
Wenn sie ihm untergehen.

2
Es kann dir nichts geschehen
Solang du bei dir bleibst
Im Guten und im Wehen
Dich niemals selbst entleibst
Und liegst du gleich im Dunkeln
So bleib bei dir die Nacht
Und red von Sternenfunkeln
Zu dir mit aller Macht.

3
Es kann dir nichts geschehen
Solang du nicht entfliehst
Im Guten wie im Wehen
Den gleichen Himmel siehst
Und Wolken, Luft und Winden
Hast du ja nichts getan
Es wird sich niemand finden
Der dich verstoßen kann.

Bertold Brecht

sonnetLXXII

SONNET LXXII

O, lest the world should task you to recite
What merit lived in me, that you should love
After my death, dear love, forget me quite,
For you in me can nothing worthy prove;
Unless you would devise some virtuous lie,
To do more for me than mine own desert,
And hang more praise upon deceased I
Than niggard truth would willingly impart:
O, lest your true love may seem false in this
That you for love speak weIl of me untrue,
My name be buried where my body is,
And live no more to shame nor me nor you.
For I am shamed by that which I bring forth,
And so should you, to love things nothing worth.

William Shakespeare

LXXII. Sonett

O, daß die Welt dir nicht mit Fragen droht,
Welch ein Verdienst du in mir lieben können,
Vergiß mich, Lieber, ganz nach meinem Tod;
Denn nichts Vollkommnes kannst du an mir nennen:
Es wäre denn, daß fromme Lügen du
Erfändest, mehr als mein Verdienst ertrüge;
Mit Kränzen schmücktest meine Totentruh,
Die karge Wahrheit gern herunterschlüge.
O, daß nicht falsch dein wahres Lieben nun,
Wenn du nun Liebe lögest, wird erfunden,
Laß bei dem Leibe meinen Namen ruhn!
Uns beiden zum Gewinn sei er verschwunden.
Denn meine Früchte, sie beschämen mich;
Und so wär Tand zu lieben, Schmach für dich.

Nachdichtung:

Pleuro

Pleuro
(ca. 480 v. Chr.)

(…)
Pleuro. Da schwand mir das süße Leben,
Ich merkte, die Kraft sank,
O! Beim letzten Hauch elend brach ich in Tränen aus,
So holde Blüte lassend.
Sie sagen, der furchtbare
Sohn Amphitryons nur diesmal
Habe die Wimper benetzt, des leidgeprüften
Mannes Verhängnis bejammernd.
Auch Ihm im Wechsel
Sagt’ er: "Der Menschen Bestes wäre nie geborn zu sein,
Nie Helios’ Licht erblickt zu
Haben. Da aber kein Vorteil ist
Dies zu beklagen,
Muß man bereden, was zu erfüllen. –
Gibt es in den Gemächern
Des Aresfreunds Oineus
Eine Jungfrau noch von den Töchtern,
Dir an Gestalt gleich?
Die will zur heitern Gemahlin ich gern haben."
Ihm der tapfere
Schatten erwiderte Meleagros’:
"Ich ließ zurück mit blühendem Nacken
Im Hause Deianeira,
Unkundig noch der goldenen
Kypris, der menschenbezaubernden."

Weißarmige Kalliope,
Halte den wohlgefügten Wagen
Hier an. Auf Kronos’ Sohn
Sei gesungen, den Olympischen, ersten der Götter,
Den unermüdlich strömenden
Alpheus, des Pelops Macht
Und Pisa, von wo der berühmte,
Auf Füßen siegende, im Lauf
Kam Pherenikos zum getürmten Syrakus,
Dem Hieron bringend
Das Glücksreis.
Man muß der Wahrheit zuliebe
Loben, den Neid mit beiden
Händen fernhaltend,
Wenn einer Glück hat der Sterblichen.

Der Boiotische Mann so sprach, der süßen
Diener, Hesiodos,
Der Musen: Wen die Unsterblichen ehren, dem
Auch der Sterblichen Ruhm folgt. –
Ich glaube gewiß,
Daß des Pfades rühmende Zunge zu Recht
Sang dem Hieron. Daher nämlich
Die Wurzeln sprießen des Glücks;
Die möge der Allvater
Zeus unerschütterlich in Frieden beschirmen.

Bakchylides von Keos
(übertragen von Curt Hohoff)

La Mort

La mort des artistes

Combien faut-il de fois secouer mes grelots
Et baiser ton front bas, morne Caricature?
Pour piquer dans le but, de mystique nature,
Combien, ô mon carquois, perdre javelots?

Nons userons notre âme en de subtils complots,
Et nons démolirons mainte lourde armature,
Avant de contempler la grande Créature
Dont l’infernal désir nous remplit de sanglots

Il en est qui jamais n’ont connu leur Idole,
Et ces sculpteurs damnés et marqués d’un affront,
Qui vont se martelant la poitrine et le front,

N’ont qu’un espoir, étrange et sombre Capitole!
C’est que la Mort, planant comme un soleil nouveau,
Fera s’épanouir les fleurs de leur cerveau!

Charles Baudelaire

Der Tod der Künstler

Wie lange werd ich fröstelnd beben müssen
Und, spottgestalt! die flache stirn dir küssen,
Wie viele pfeile fliehn aus meinen köchern
Die mystisch ferne scheibe zu durchlöche
rn?

Wir zehren unsre kraft in spitzen plänen,
Wir werden manche harte wehr zerhauen
Eh wir die große kreatur beschauen –
Ihr höllisches gelüst erzwingt uns tränen.

So manche fanden niemals ihr Idol,
verwünschte bildner die die schande geißelt
Und deren hand dir haupt und busen meißelt

Mit einer hoffnung, düstres kapitol,
Daß einst der Tod, ein neues tag-gestirn,
Die blumen sprießen läßt in ihrem hirn.

Übertragung: Stefan George

Stehen im Schatten

Stehen im Schatten

Stehen im Schatten
Des Wundenmals in der Luft.

Für-niemand-und-nichts-Stehn.
Unerkannt,
für dich
allein.

Mit allem, was darin Raum hat,
auch ohne
Sprache.

Paul Celan

Manas

Manas
(1927)

"Schnee sein, Wind sein,
Durch die Luft tropfen,
In den Boden sickern.
Wer hat den Tod erfunden?
Schmelzen, schwinden,

Nicht zu wissen von gestern, morgen,
Nicht zu wissen von mir,
Nicht zu wissen, nicht zu wissen."

Alfred Döblin

Nachdem

Nach dem Tod

Wir starben und erwarteten vom Tod einiges.
In einer großen Leere wurde das Geheimnis gelöst.
Unmöglich, sich an dieses Lied nicht zu erinnern,
Ein Stück Himmel, das Zweigbündel, die Vogelfeder,
Das Leben war etwas Vertrautes für uns.

Nun keine Nachricht mehr aus dieser Welt;
Keiner mehr sucht und fragt nach uns.
So finster ist unsere Nacht,
Daß es einerlei ist, ob wir ein Fenster haben oder nicht;
Kein Spiegelbild mehr haben wir im Flußwasser.

Hit Sitki Taranci
(Übertragung: Yüksel Pazarkya)

Sonntag

Am vierten Sonntag nach Ostern

Nicht eine Gnadenflamme hehr
Vor deinem Volke soll ich gehn,
Nein, ein versteinert Leben schwer
Wie Sodoms Säule muß ich stehn
Und um mich her
Die Irren träumend schwanken sehn.

Und ob auch Öde mich umgibt,
Oh mich erstickt der Nebel fast,
Mir Wirbelsand die Augen trübt,
Doch weiß ich, daß mein Sein dich faßt,
Daß es dich liebt,
Und daß du mich gesendet hast.

Den Lebenshauch halt ich von dir,
Unsterblich hast du mich gemacht;
Nicht Glut, nicht Dürre schadet mir,
Ich weiß, ich bin in deiner Wacht,
Und muß ich hier
Auch stehn wie ein Prophet der Nacht.

Ich hebe meine Stimme laut,
Ein Wüstenherold für die Not:
Wacht auf, ihr Träumer, aufgeschaut!
Am Himmel brennt das Morgenrot.
Nur aufgeschaut!
Nur nicht zurück, dort steht der Tod!

Nur aufgeschaut, nur nicht zurück!
Laßt Menschenweisheit hinter euch!
Sie ist der Tod; ihr schnödes Glück
Ist übertünchtem Grabe gleich.
O hebt den Blick!
Der Himmel ist so mild und reich.

XXXX