Gedicht Rose Ausländer Der Brunnen

Der Brunnen

Im verbrannten Hof
Steht noch der Brunnen
Voll Tränen

Wer weinte sie

Wer trinkt seinen Durst leer

Rose Ausländer

Gedicht Anday Brief von einem toten Freund

Brief von einem toten Freund

Ich lebe so wie früher
Gehe spazieren und denke…
Nur fahre ich ohne Fahrkarte mit dem Schiff und dem Zug
Und kaufe ein ohne feilschen zu müssen.

Nachts bin ich in meiner Wohnung, es geht mir gut
(Könnte ich doch auch das Fenster öffnen, wenn es mir
[langweilig wird)
Ach … mich am Kopf kratzen, Blumen pflücken,
Hände drücken möchte ich manchmal.

Melih Cevdet Anday
(Übertragung: Yüksel Pazarkya)

Gedicht Schiller Breite und Tiefe

Breite und Tiefe

Es glänzen viele in der Welt,
Sie wissen von allem zu sagen,
Und wo was reizet und wo was gefällt,
Man kann es bei ihnen erfragen;
Man dächte, hört man sie reden laut,
Sie hätten wirklich erobert die Braut.

Doch gehn sie aus der Welt ganz still,
Ihr Leben war verloren;
Wer etwas Treffliches leisten will,
Hätt gern was Großes geboren,
Der sammle still und unerschlafft
Im kleinsten Punkte die höchste Kraft.

Der Stamm erhebt sich in die Luft
Mit üppig prangenden Zweigen,
Die Blätter glänzen und hauchen Duft,
Doch können sie Früchte nicht zeugen;
Der Kern allein im schmalen Raum
Verbirgt den Stolz des Waldes, den Baum.

Friedrich v. Schiller

Gedicht Bertold Brecht Inschrift auf einem nicht abgeholten Grabstein

Inschrift auf einem nicht abgeholten Grabstein
(ca. 1927)

Wandrer, wenn du vorbeikommst
Wisse:
Ich war glücklich
Meine Unternehmungen waren fruchtbar
Meine Freunde treu
Meine Gedanken angenehm
Was ich tat, war besonnen
Am Ende habe ich nicht widerrufen
Wegen einer Kleinigkeit
Habe ich nie mein Urteil geändert.

Da ich noch nicht tot bin
Wage ich nichts zu sagen als:

Mein Leben war schwer, aber
Ich klage nicht
Auch habe ich etwas aufzuweisen
Was mein Leben rentiert hat
Sorge dich nicht um mich, ich selber
Verachte die Unglücklichen
Aber schon, als ich schrieb
Was du hier liest
Gab es nichts mehr, was mich noch treffen konnte.

Bertold Brecht

Gedicht Conrad Ferdinand Meyer Schillers Bestattung

Schillers Bestattung

Ein ärmlich düster brennend Fackelpaar, das Sturm
Und Regen jeden Augenblick zu löschen droht.
Ein flatternd Bahrtuch. Ein gemeiner Tannensarg
Mit keinem Kranz, dem kargsten nicht, und kein Geleit!
Als brächte eilig einen Frevel man zu Grab.
Die Träger hasteten. Ein Unbekannter nur,
Von eines weiten Mantels kühnem Schwung umweht,
Schritt dieser Bahre nach. Der Menschheit Genius war’s.

Conrad Ferdinand Meyer

Gedicht Bertold Brecht Ballade in der Stunde der Entmutigung

Ballade in der Stunde der Entmutigung
(1920)

I
Meine Jahre sind um und um.
Habe nichts gelernt, bin dumm.
Muß jetzt sterben, habe keine Religion
Bruder, gib mir Schnaps oder hilf mir davon?

2
Wasch dir dein Gesicht, wenn dir die Hand befleckt!
Mußt halt bitten, daß Moder und Kalk es verdeckt!
Es wird alles verbraucht und abgenutzt allhie
Aber meine blatternhäutige Seele, wie versteck ich sie?

3
So mich einer sieht in meinem Leichenhemd
Den bitte ich heut, daß er mir die Haare in die Augen kämmt
Er kann sich ja bekreuzen, doch wenn er erbleicht vor mir
So kann er erbleichen vor einem jeden Tier.

Bertold Brecht

Gedicht Theodor Fontane Ausgang

Ausgang

Immer enger, leise, leise
Ziehen sich die Lebenskreise,
Schwindet hin, was prahlt und prunkt,
Schwindet Hoffen, Hassen, Lieben,
Und ist nichts in Sicht geblieben
Als der letzte dunkle Punkt.

Theodor Fontane

Gedicht Andreas Gryphius An sich selbst

An sich selbst

Mir grauet vor mir selbst; mir zittern alle Glieder,
Wenn ich die Lipp und Nas und beider Augen Kluft,
Die blind vom Wachen sind, des Atems schwere Luft
Betracht und die nun schon erstorbnen Augen-Lider.

Die Zunge, schwarz vom Brand, fällt mit den Worten nieder
Und lallt ich weiß nicht was; die müde Seele ruft
Dem großen Tröster zu; das Fleisch ruft nach der Gruft;
Die Ärzte lassen mich; die Schmerzen kommen wieder.

Mein Körper ist nicht mehr als Adern, Fell und Bein.
Das Sitzen ist mein Tod, das Liegen meine Pein.
Die Schenkel haben selbst nun Träger wohl vonnöten.

Was ist der hohe Ruhm, und Jugend, Ehr und Kunst?
Wenn diese Stunde kommt, wird alles Rauch und Dunst,
Und eine Not muß uns mit allem Vorsatz töten.

Andreas Gryphius

Gedicht Thomas Bernhard Anruf

Anruf
(vor 1958)

Die Zeit ist ausgelöscht
o Herr
mein Wort das bitter kam
und finster
Herr
zu finster für die Erde
ausgelöscht ist meine Qual
mein Hunger ausgetrunken
und mein Herz in Nächten
die zerpflügt sind
mit dem Pflug der Lieder
die Zeit ist ohne End’
doch voll der Träume Not
die mich nicht will
auf meinem Stein des Sterbens.

Thomas Bernhard

Gedicht Franco de Faveri Anche gli alberi un tempo erano croci

Anche gli alberi un tempo erano croci

Anche gli alberi un tempo erano croci
Appesi ai rami d‘ombra agonizzavano
i miei fratelli, il sole dentro gli occhi.

Perduta era dell’anima l’effigie
umana, sconosciuta ogni parola
d’amore era tra i simili, scomparso
tutto dell’uomo il seme e la misura.

Tutto passò in dilirio: la memoria,
torbido lago ove affluisce il cuore,
sarà specchio d’immagini e di nomi.

Torno a scoprire i morti ad uno ad uno,
incustodite ceneri, a ridire
il nome dei compagni come in una
segreta antologia.

EIio Filippo Accrocca

 

 

Auch die Bäume waren einmal Kreuze

Auch die Bäume waren einmal Kreuze. An den Schattenzweigen
hängend, waren meine Brüder am Sterben, die Sonne in den Augen.

Verloren war der Seele menschliches Ebenbild, unbekannt war
jedes Liebeswort zwischen den Nächsten, verschwunden ganz des
Menschen Same und Maß.

Alles ging vorüber im Wahn: das Gedächtnis, ein trüber See, wo
das Herz hinströmt, wird Spiegel von Bildern und Namen sein.

Ich kehre zurück und entdecke die Toten einen um den andern,
unbewachte Asche, und sage die Namen der Genossen auf wie eine
geheime Anthologie.

Übertragung: Franco de Faveri/Regine Wagenknecht