14.6.05 – Portugals bedeutendster Dichter Eugénio de Andrade gestorben

Portugals bedeutendster zeitgenössischer Dichter Eugénio de Andrade ist im Alter von 82 Jahren gestorben. Wie die von dem Literaten gegründete Stiftung mitteilte, erlag der Autor am Montag in seiner Wohnung in Porto einer langen Krankheit.

Andrade, der mit bürgerlichem Namen José Fontinhas hiess, hatte vor vier Jahren den Cames-Preis erhalten, die wichtigste literarische Auszeichnung in der portugiesischsprachigen Welt.

Seine Werke wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Auf Deutsch erschien 1997 unter dem Titel «Stilleben mit Früchten» ein Band mit ausgewählten Gedichten. Andrade war 1948 mit der Sammlung «As mos e os frutos» (Die Hände und die Früchte) bekannt geworden. In den Mittelpunkt seines umfangreichen Werkes stellte er die «elementare Welt», wozu er Erde, Wasser, Licht und Wind zählte.

Gedicht Paul Celan Dein

Dein

Dein
Hinübersein heute Nacht.
Mit Worten holt ich dich wieder, da bist du,
alles ist wahr und ein Warten auf Wahres.

Es klettert die Bohne vor
unserm Fenster: denk
wer neben uns aufwächst und
ihr zusieht.

Gott, das lasen wir, ist
ein Teil und ein zweiter, zerstreuter:
im Tod
all der Gemähten
wächst er sich zu.

Dorthin
führt uns der Blick,
mit dieser
Hälfte
haben wir Umgang.

Paul Celan

Gedicht Paul Verlaine Chanson d‘automne

Chanson d‘automne

Les sanglots longs
Des violons
De l’automne
Blessent mon coeur
D’ une langueur
Monotone.

Tout suffocant
Et blême, quand
Sonne l‘ heure,
Je me souviens
Des jours anciens
Et je pleure;

Et je m’en vais
Au vent mauvais
Qui m’ emporte
DeV à, delà,
Pareil à la
Feuille morte.

Paul Verlaine

Herbstlied

Seufzer gleiten
Die saiten
Des herbsts entlang
Treffen mein herz
Mit einem schmerz
Dumpf und bang.

Beim glockenschlag
Denk ich zag
und voll peinen
An die zeit
Die nun schon weit
Und muss weinen.

Im bösen winde
Geh ich und finde
Keine statt…
Treibe fort
Bald da bald dort –
Ein welkes blatt.

Übertragung: Stefan George

Gedicht Çet Necatigil In den Büchern sterben

In den Büchern sterben

Name, Vorname
Klammer auf
Das Geburtsjahr, Strich, das Todesjahr, aus
Klammer zu.

Nun ist er in den Büchern ein Name, ein Vorname
In Klammern sein Geburts- und Todesjahr.

Gegen Ende der Seite oder etwas weiter unten
Seine Werke, Erscheinungsjahre
Eine kurze, lange Liste.
Wie Vögel im Todeskampf die Buchtitel in euren Händen.

Der Strich zwischen den beiden Klammern
Er bedeutet alles
Seine Hoffnung, seine Angst, seine Tränen, seine Freude
Er bedeutet alles.

Nun ist er in den Büchern
Gefangen durch einen Strich;
Lebt er noch: er kann sich nicht wehren,
Sie können ihn töten.

Çet Necatigil
(Übertragung: Yüksel Pazarka)

Gedicht Rose Ausländer Der Brunnen

Der Brunnen

Im verbrannten Hof
Steht noch der Brunnen
Voll Tränen

Wer weinte sie

Wer trinkt seinen Durst leer

Rose Ausländer

Gedicht Anday Brief von einem toten Freund

Brief von einem toten Freund

Ich lebe so wie früher
Gehe spazieren und denke…
Nur fahre ich ohne Fahrkarte mit dem Schiff und dem Zug
Und kaufe ein ohne feilschen zu müssen.

Nachts bin ich in meiner Wohnung, es geht mir gut
(Könnte ich doch auch das Fenster öffnen, wenn es mir
[langweilig wird)
Ach … mich am Kopf kratzen, Blumen pflücken,
Hände drücken möchte ich manchmal.

Melih Cevdet Anday
(Übertragung: Yüksel Pazarkya)

Gedicht Schiller Breite und Tiefe

Breite und Tiefe

Es glänzen viele in der Welt,
Sie wissen von allem zu sagen,
Und wo was reizet und wo was gefällt,
Man kann es bei ihnen erfragen;
Man dächte, hört man sie reden laut,
Sie hätten wirklich erobert die Braut.

Doch gehn sie aus der Welt ganz still,
Ihr Leben war verloren;
Wer etwas Treffliches leisten will,
Hätt gern was Großes geboren,
Der sammle still und unerschlafft
Im kleinsten Punkte die höchste Kraft.

Der Stamm erhebt sich in die Luft
Mit üppig prangenden Zweigen,
Die Blätter glänzen und hauchen Duft,
Doch können sie Früchte nicht zeugen;
Der Kern allein im schmalen Raum
Verbirgt den Stolz des Waldes, den Baum.

Friedrich v. Schiller

Gedicht Bertold Brecht Inschrift auf einem nicht abgeholten Grabstein

Inschrift auf einem nicht abgeholten Grabstein
(ca. 1927)

Wandrer, wenn du vorbeikommst
Wisse:
Ich war glücklich
Meine Unternehmungen waren fruchtbar
Meine Freunde treu
Meine Gedanken angenehm
Was ich tat, war besonnen
Am Ende habe ich nicht widerrufen
Wegen einer Kleinigkeit
Habe ich nie mein Urteil geändert.

Da ich noch nicht tot bin
Wage ich nichts zu sagen als:

Mein Leben war schwer, aber
Ich klage nicht
Auch habe ich etwas aufzuweisen
Was mein Leben rentiert hat
Sorge dich nicht um mich, ich selber
Verachte die Unglücklichen
Aber schon, als ich schrieb
Was du hier liest
Gab es nichts mehr, was mich noch treffen konnte.

Bertold Brecht

Gedicht Conrad Ferdinand Meyer Schillers Bestattung

Schillers Bestattung

Ein ärmlich düster brennend Fackelpaar, das Sturm
Und Regen jeden Augenblick zu löschen droht.
Ein flatternd Bahrtuch. Ein gemeiner Tannensarg
Mit keinem Kranz, dem kargsten nicht, und kein Geleit!
Als brächte eilig einen Frevel man zu Grab.
Die Träger hasteten. Ein Unbekannter nur,
Von eines weiten Mantels kühnem Schwung umweht,
Schritt dieser Bahre nach. Der Menschheit Genius war’s.

Conrad Ferdinand Meyer

Gedicht Bertold Brecht Ballade in der Stunde der Entmutigung

Ballade in der Stunde der Entmutigung
(1920)

I
Meine Jahre sind um und um.
Habe nichts gelernt, bin dumm.
Muß jetzt sterben, habe keine Religion
Bruder, gib mir Schnaps oder hilf mir davon?

2
Wasch dir dein Gesicht, wenn dir die Hand befleckt!
Mußt halt bitten, daß Moder und Kalk es verdeckt!
Es wird alles verbraucht und abgenutzt allhie
Aber meine blatternhäutige Seele, wie versteck ich sie?

3
So mich einer sieht in meinem Leichenhemd
Den bitte ich heut, daß er mir die Haare in die Augen kämmt
Er kann sich ja bekreuzen, doch wenn er erbleicht vor mir
So kann er erbleichen vor einem jeden Tier.

Bertold Brecht