Kaleidoskop

Kaleidoskop

Wer Gott ahnet, ist hoch zu halten,
Denn er wird nie im Schlechten walten.

Der Mensch erfährt, er sei auch, wer er mag,
Ein letztes Glück und einen letzten Tag.

Nichts vom Vergänglichen,
Wie’s auch geschah
Uns zu verewigen
Sind wir ja da.

Johann Wolfgang von Goethe

Was dann?

Was dann?
(ca. 1930)

Wo wird es bleiben,
Was mit dem letzten Hauch entweicht?
Wie Winde werden wir treiben –
Vielleicht!

Werden wir reinigend wehen?
Und kennen jedes Menschen Gesicht.
Und jeder darf durch uns gehen,
Erkennt aber uns nicht.

Wir werden drohen und mahnen
Als Sturm,
Und lenken die Wetterfahnen
Auf jedem Turm.
Ach, sehen wir die dann wieder,
Die vor uns gestorben sind?
Wir, dann ungreifbarer Wind?
Richten wir auf und nieder
Die andern, die nach uns leben?

Wie weit wohl Gottes Gnade reicht.
Uns alles zu vergeben?
Vielleicht? Vielleicht!

Joachim Ringelnatz

Tagebuch

Tagebuch
(1967)

Wir leben, um zu sterben. Der Tod ist das Ziel der
Existenz, das ist, wird man sagen, eine Binsenweisheit. Doch zuweilen
verschwindet hinter einem abgegriffenen Ausdruck das Banale, und die
Wahrheit taucht auf, taucht ganz neu wieder auf. Mir scheint, ich
durchlebe einen jener Augenblicke, da ich mir zum ersten Male sage,
da ich zum ersten Male entdecke, daß die Existenz nur ein Ziel hat:
den Tod. Man kann nichts dagegen tun. Man kann nichts tun. Man kann
nichts tun. Man kann nichts dagegen tun. Aber was sind das für Lebensbedingungen,
an Fäden gezogen zu werden wie Marionetten? Mit welchem Recht hält
man mich zum Narren?
Noch heute wundere ich mich manchmal, nicht mehr zwölf Jahre alt zu
sein.

Wenn ich Phädon lese, merke ich erst am Ende des
Dialogs, wie gut wir dran sind. Sokrates hat mich nicht davon überzeugen
können, daß die Seele unsterblich ist und daß er künftig in einer
besseren Welt leben wird. Anscheinend sind seine Jünger auch nicht
davon überzeugt, denn sie weinen; warum sollten sie sonst weinen?
Wenn der Abend kommt und Sokrates das Gift trinkt, wenn seine Füße
erkalten und der Leib, und wenn er schließlich stirbt, packt mich
ein Schrecken, eine unsägliche Traurigkeit. Die Beschreibung von Sokrates’
Tod ist so überzeugend, viel überzeugender als die Argumente, die
Sokrates für die Unsterblichkeit anführt. Außerdem verflüchtigen sich
die Argumente augenblicklich; man vergißt sie sofort, doch das Bild
vom Tod des Sokrates gräbt sich in meine Erinnerung; alle Menschen
sind sterblich. Da Sokrates ein Mensch ist, ist er sterblich. Heute
Nacht lag ich wach und dachte daran. Seit langem hatte ich keine so
hellsichtige, greifbare, eisige Angst mehr empfunden. Furcht vor dem
Nichts. Wie soll ich es beschreiben? Ich legte die Hände auf die Brust,
um zu spüren, daß ich da war; dann plötzlich war mir, als hätte die
Finsternis des Nichts bereits begonnen, mich zu verschlingen, als
hätte ich schon keine Füße, keine Waden, keine Schenkel mehr; ich
war nur noch ein Rumpf, an dem die eisigen Flammen des Nichts zehrten.
Ich machte Licht. Wie gut ist es zu leben! Zärtlichkeit stieg in mir
auf für das Leben, das mir feenhaft schien, eine leuchtende Zauberei
der Nacht. Wir töten uns gegenseitig, weil wir wissen, daß wir alle
getötet werden. Weil wir den Tod hassen, darum töten wir einander.
Der friedvolle, heitere Tod des Sokrates scheint mir plötzlich ganz
unwahrscheinlich, und doch ist so etwas möglich. Aber wie?

Eugéne Ionesco

phaidon

Phaidon
(ca. 387-367 v. Chr.)

Sokrates. In der Tat also, mein Simmias,
trachten die wahren Philosophen danach, zu sterben, und der Tod ist
ihnen von allen Menschen am wenigsten furchtbar. Stelle nur folgende
Erwägung an. Wenn sie nämlich in jeder Hinsicht mit dem Leibe entzweit
sind und die Seele ganz für sich allein haben wollen, wäre es da nicht
die größte Torheit, wenn sie sich bei Erfüllung dieses Wunsches fürchten
und unwillig sein wollten, anstatt mit Freuden dahin zu gehen, wo
sie nach ihrer Ankunft hoffen dürfen, das zu erlangen, wonach sie
ihr Leben lang getrachtet haben – es war dies aber die Vernunfterkenntnis
-, und vom Zusammensein mit dem befreit zu werden, was ihnen zuwider
war?
Oder sollten nur viele nach dem Tode sterblicher Lieblinge oder Frauen
und Kinder freiwillig in die Unterwelt haben gehen wollen, von der
Hoffnung geleitet, dort die wiederzusehen, nach denen sie sich sehnten,
und mit ihnen zusammen zu sein; wer aber die Vernunfterkenntnis wirklich
liebt und ebendieser zuversichtlichen Hoffnung lebt, er werde nirgend
anderswo ihrer nach Wunsch teilhaftig werden als in der Unterwelt,
den sollte es verdrießen zu sterben, und er sollte nicht freudig dorthin
aufbrechen?
Nein, das kann man nicht glauben, mein Bester, wenigstens nicht, wenn
er ein echter Philosoph ist. Denn gar fest wird ein solcher dies glauben,
daß er nirgend woanders die reine Wahrheit antreffen wird als dort.
Verhält sich das aber so, wäre es da nicht, wie gesagt, große Unvernunft,
wenn ein solcher den Tod fürchtete?

Plato

Gebet an die Ahnen

Gebet an die Ahnen

Einträchtig sind sie hergekommen
und nahten ehrerbietig schon;
der Fürsten Beisein soll ihm frommen;
voll Andacht ist der Himmelssohn.

"Da ich den großen Stier Dir weihe
und sie beim Opfer nehmen teil,
verklärter Vater, o verleihe
mir, Deinem treuen Sohne, Heil!

An Geist und Wahrheit warst Du Mann,
und warst Fürst in Krieg und Frieden;
hast Ruh’ dem hohen Himmel dann
und Deiner Nachkunft Glanz beschieden;

Warst meiner greisen Brau’n Berater
und reichlich segnetest Du mich.
So ehr ich Dich, erhabner Vater,
und ehre, würd’ge Mutter, Dich."

Aus dem Shi-King

Vergeblich

Vergeblich
(ca. 500 v. Chr.)

Gering ist der Menschen Macht, erfolglos ihr Streben, in
Knappem Dasein Mühsal um Mühsal,
Und unentrinnbar hängt gleichmäßig über ihnen der Tod.
Denn davon erhalten ihr Teil ebenso die Guten
Wie wer schlecht ist.
Es gibt kein Unglück
Das nicht zu erwarten wäre bei Menschen, in kurzer Frist
Stößt Gott alles um.
Denn alles versinkt in dem einen grauenvollen Wirbelschlund,
Die großen Manneswerte und der Reichtum.
Denn auch sie vermochten es nicht, die früher einmal gewesen sind,
Halbgötter gezeugt von Herrengöttern,
Ein mühefreies, verfallfreies, gefahrfreies Leben
Zum Ziel des Greisentums zu bringen.

Simonides von Keos
(übertragen von Hermann Fränkel)

Sure

27. Sure
(ca. 600 n.Chr.)

Darum wird Allah sie vor dem Übel dieses Tages bewahren und Heiterkeit und Freude auf ihrem Angesicht glänzen lassen und sie belohnen für ihre ausharrende Geduld mit einem Garten und mit seidenen Gewändern, und sie werden dort auf Lagerkissen ruhen und weder Sonne noch Kälte mehr fühlen. Dichte Schatten werden sich behütend über ihnen ausbreiten, und Früchte werden tief herabhängen, damit sie leicht gepflückt werden können.
Und Dienende werden mit silbernen Kelchen und Bechern um sie herumgehen, mit glashellen Silberflaschen, deren Maß sie nach eigenem Wunsch bestimmen können. Man gibt ihnen da zu trinken aus einem Becher Wein mit Ingwer-Wasser, aus einer Quelle dort, welche Salsabil heißt.
Zu ihrer Aufwartung gehen ewig blühende Jünglinge um sie herum; wenn du sie siehst, hälst du sie für verstreute Perlen, und wo du hinsiehst, erblickst du die Wonne und ein großes Reich. Ihre Gewänder sind aus feiner grüner Seide und aus Samt, durchwirkt mit Gold und Silber, und geschmückt sind sie mit silbernen Armbändern, und ihr Herr wird ihnen reinsten Trunk zu trinken geben und sagen: "Dies ist euer Lohn und der Dank für euer eifriges Streben."

Koran

Korinther – Paulus

Erster Brief an die Korinther
(ca. 50 n.Chr.)

Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden; und dasselbige plötzlich, in einem Augenblick, zu der Zeit der letzten Posaune. Denn es wird die Posaune schallen, und die Toten werden auferstehen unverweslich, und wir werden verwandelt werden. … Dann wird erfüllet werden das Wort, das geschrieben steht: Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?

Paulus

TodesBoten

Des Todes Boten
(ca. 750 n.. Chr.)

All die Gedankenlosen, die nicht sorgen,
Zu welcher Zeit des Todes Boten kommen,
Müssen in niederer Verkörperung
Lange die Qual der Leiden fühlen.
Die jedoch gut und heilig sind,
Betragen sich nicht gedankenlos,
Wenn des Todes Boten erscheinen,
Beachten, was die Hohe Lehre sagt,
und sehn, erschreckt, in der Verhaftung
Die ew’ge Quelle von Geburt und Tod,
Befrein sich selbst von diesem Hang
Und tilgen so Geburt und Tod.
Sicher und glücklich ruhen sie.
Entlassen aus der flutenden Schau,
Entbunden aller Sünd’ und Furcht;
Sie sind nun alles Elends bloß.

Tibetanisches Totenbuch

Die Pest

Die Pest
(1947)

Ohne aus dem Schatten herauszutreten sagte der Arzt, er habe schon geantwortet: Wenn er an einen allmächtigen Gott glaubte, würde er aufhören, die Menschen zu heilen und würde diese Sorge ihm überlassen. Aber niemand auf der Welt – nein, nicht einmal Paneloux, der glaube, daran zu glauben – glaube an einen solchen Gott, da niemand sich völlig hingebe, und zumindest darin glaube er, Rieux, auf dem Weg der Wahrheit zu sein, indem er gegen die Schöpfung, so wie sie war, ankämpfe.
"Ach, das ist also die Vorstellung, die Sie sich von Ihrem Beruf machen?"
"Ungefähr", sagte der Arzt und trat wieder ins Licht.
Tarrou pfiff leise, und der Arzt sah ihn an.
"Ja", sagte er, "Sie denken, daß dazu Stolz nötig ist. Aber ich habe nicht mehr als den nötigen Stolz, glauben Sie mir. Ich weiß nicht, was mich erwartet und was nach all dem hier kommen wird. Vorerst sind da die Kranken, und sie müssen geheilt werden. Danach werden sie nachdenken und ich auch. Aber das dringendste ist, sie zu heilen. Ich verteidige sie, so gut ich kann, das ist alles."
"Gegen wen?"
Rieux wandte sich zum Fenster. An einer dichteren Dunkelheit des Horizonts erahnte er in der Ferne das Meer. Er spürte nur seine Müdigkeit und kämpfte gleichzeitig gegen einen plötzlichen, unsinnigen Wunsch, sich diesem eigenartigen, aber wie er fühlte, brüderlichen Mann etwas mehr anzuvertrauen.
"Ich habe keine Ahnung, Tarrou, ich schwöre Ihnen, daß ich keine Ahnung habe. Als ich diesen Beruf ergriffen habe, geschah es gewissermaßen abstrakt, weil ich einen brauchte, weil es eine Stellung wie alle anderen war, eine von denen, die junge Leute sich zum Ziel setzen. Vielleicht auch, weil es besonders schwierig für einen Arbeitersohn wie mich war. Und dann mußte man sterben sehen. Wissen Sie, daß es Leute gibt, die sich weigern zu sterben? Haben Sie je eine Frau im Sterben ‚Niemals!‘ schreien hören? Ich schon. Und dann ist mir klar geworden, daß ich mich nicht daran gewöhnen konnte. Ich war jung, und mein Ekel glaubte sich gegen die Weltordnung selbst zu richten. Seitdem bin ich bescheidener geworden. Nur habe ich mich immer noch nicht daran gewöhnt, sterben zu sehen. Mehr weiß ich nicht. Aber schließlich …"
Rieux verstummte und setzte sich wieder. Er merkte, daß sein Mund trocken war.
"Schließlich?" sagte Tarrou leise.
"Schließlich ..", fuhr der Arzt fort, zögerte wieder und sah Tarrou aufmerksam an, "ist es etwas, was ein Mann wie Sie verstehen kann, nicht wahr, aber da die Weltordnung durch den Tod bestimmt wird, ist es für Gott vielleicht besser, daß man nicht an ihn glaubt und mit aller Kraft gegen den Tod ankämpft, ohne die Augen zu diesem Himmel zu erheben, in dem er schweigt."
"Ja, das kann ich verstehen", stimmte Tarrou zu. "Aber Ihre Siege werden immer vorläufig sein, das ist alles."
Rieux schien sich zu verdüstern.
"Immer, das weiß ich. Das ist kein Grund, den Kampf aufzugeben."
"Nein, das ist kein Grund. Aber ich kann mir jetzt vorstellen, was diese Pest für Sie bedeuten muß."

Albert Camus