Ida Lamp

Requiem

unüberschaubar
die gräber

einzig
dein tod
nimmt mir leben

ida lamp

Ida Lamp

Totenlied

Totenlied für Klabund

An Deine Bahre treten,
Klabund, in langer Reih,
Die Narren und Propheten,
Die Tiere und Poeten,
Und ich bin auch dabei.

Es kommen die Hamburger Mädchen
Samt Neger und Matros,
Wo werden sie jetzt ihre Pfundstück
Und all die Sorgen los?

Es kommen die englischen Fräuleins,
Wie Morcheln, ohne Kinn,
Wo sollen denn die Armen jetzt
Mit ihrer Unschuld hin?

Es kommt am Humpelstocke
Der Leierkastenmann
Und fängt aus tiefster Orgelbrust
Wie ein Hund zu heulen an.

Es kommt der Wilhelm Fränger,
Die Laute in der Hand,
Aus seinen Zirkusaugen rinnt
Statt Tränen blutiger Sand.

Es kommen alle Vögel
Und zwitschern ohne Ruh,
Sie decken Dich wie junge Brut
Mit flaumigen Federn zu.

Es kommt ein Handwerksbursche
mit rotem Augenlid,
Der kritzelt auf ein Telegramm-Formular
Dein schönstes Liebeslied.

Es kommt auf Beinen wie ein Reh
Ein dünner grauer Mann,
Der stellt die Himmelsleiter
Zu Deinen Füßen an.

Carl Zuckmayer

Der alte Grabstein

Der alte Grabstein

In einem kleinen Marktflecken, bei einem Manne, der sein eigenes Haus hatte, saß die ganze Familie abends im Kreise beisammen, zu einer Jahreszeit, da man sagt: "Die Abende werden länger"; es war noch mild und warm; die Lampe war angezündet; die langen Vorhänge hingen vor den Fenstern, auf denen Blumentöpfe standen, und draußen war herrlicher Mondschein; davon redeten sie jedoch nicht, sie redeten von einem alten, großen Stein, der unten auf dem Hofe lag, dicht bei der Küchentür, wo die Mägde oft die gescheuerten Kupfersachen hinstellten, damit sie in der Sonne trockneten, und wo die Kinder zu spielen pflegten – es war eigentlich ein alter Grabstein.
,,Ja", sagte der Hausvater, ,,ich glaube, er stammt von der alten, abgerissenen Klosterkirche; da wurden ja Kanzel, Epitaphien und Grabsteine verkauft; mein seliger Vater kaufte mehrere davon, sie wurden zum Pflastern zerschlagen, aber dieser Stein blieb übrig und liegt seitdem auf dem Hof."
,,Man kann wohl sehen, daß es ein Grabstein ist", sagte das älteste der Kinder, ,,da ist noch immer ein Stundenglas zu erkennen und ein Stück von einem Engel, aber die Inschrift, die draufstand, die ist fast ganz verwischt, ausgenommen der Name Preben und ein großes S, das gleich dahinter steht, und ein wenig weiter unten ,Marthe‘; aber mehr kann man nicht erkennen, und so deutlich steht es auch nur da, wenn es geregnet hat oder wenn wir ihn ab gewaschen haben."
,,Herrgott, das ist der Leichenstein von Preben Svane und seiner Ehefrau!" sagte ein alter, alter Mann, er hätte dem Alter nach leicht der Großvater von allen in der Stube sein können. ,,Ja, dies Ehepaar war eines von den letzten, die auf dem alten Klosterfriedhof beerdigt wurden! Es war ein altes, rechtschaffenes Paar aus meiner Knabenzeit! Alle kannten sie, und alle liebten sie, sie waren das Alterskönigspaar hier im Ort! Die Leute erzählten von ihnen, sie besäßen über eine Tonne Gold, und trotzdem gingen sie schlicht gekleidet, im gröbsten Zeug, nur ihr Leinen war ganz schimmernd weiß. Sie waren ein schönes altes Paar, Preben und Marthe! Wenn sie auf der Bank saßen, die oben auf der hohen, steinernen Treppe des Hauses stand, über die die alte Linde ihre Äste neigte, und sie nickten freundlich und mild, dann wurde einem so richtig froh zumute. Sie waren so unbeschreiblich gut gegen die Armen; sie speisten sie, sie kleideten sie, und in all ihrer Wohltätigkeit lagen Vernunft und wahres Christentum.

Zuerst starb die Frau! ich entsinne mich des Tages ganz genau! Ich war ein kleiner Junge und mit meinem Vater beim alten Preben drinnen, als sie gerade eingeschlafen war; der alte Mann saß ganz bewegt da, weinte wie ein Kind – die Leiche lag noch in der Schlafstube, dicht neben dem Platz, wo wir saßen-, und er sprach mit meinem Vater und ein paar Nachbarn darüber, wie einsam es jetzt werden würde, was für ein Segen sie gewesen war, wie viele Jahre sie mitsammen verlebt hatten und wie es gekommen war, daß sie einander kennenlernten und liebgewannen; ich war, wie gesagt, klein und stand dabei und hörte zu, aber ich war so seltsam erfüllt davon, dem alten Manne zuzuhören und zu sehen, wie er immer lebhafter wurde, rote Wangen bekam, als er von den Verlobungstagen sprach, wie entzückend sie gewesen war, wie viele kleine harmlose Umwege er gemacht hatte um sich mit ihr zu treffen; und er sprach vom Hochzeitstag, seine Augen glänzten dabei, er lebte geradezu wieder in jener freudvollen Zeit, und dabei lag sie jetzt tot in der Schlafstube nebenan, eine alte Frau, und er war ein alter Mann und sprach von der Zeit des Hoffens! – Jaja, so geht
es! Da war ich nur ein Kind, und jetzt bin ich alt, alt wie Preben Svane. Die Zeit vergeht, und alles wandelt sich! – Ich erinnere mich gut an ihren Begräbnistag, der alte Preben ging hinter dem Sarge. Ein paar Jahre vorher hatte das Ehepaar seinen Grabstein hauen lassen mit Inschrift und Namen, bis auf das Todesjahr; der Stein wurde abends hingefahren und auf das Grab gelegt – und das Jahr darauf wurde er wieder hochgenommen, und der alte Preben kam zu seiner Frau hinunter. Sie hatten keine Reichtümer hinterlassen, wie die Leute geglaubt und erzählt hatten, was da war, kam zu den Anverwandten, weit entfernten, von denen man nie etwas gewußt hatte. Das Fachwerkhaus mit der Bank auf der hohen steinernen Treppe unter der Linde wurde vom Magistrat abgerissen, denn es war viel zu baufällig, als daß sie es hätten stehenlassen können. Später, als es mit der Klosterkirche ebenso gemacht und der Friedhof eingeebnet wurde, kam Prebens und Marthes Grabstein, wie alles von dort, an den, der ihn haben wollte, und nun trifft es sich so, daß er nicht zerschlagen und verbraucht worden ist, sondern auf dem Hofe liegt als Spielplatz für die Kleinen und als Abstellplatz für die gescheuerten Küchensachen der Mägde. Die gepflasterte Straße führt jetzt über die Grabstätte des alten Preben und seiner Ehefrau hinweg; ihrer erinnert sich niemand mehr!"

Und der alte Mann, der dies erzählte, schüttelte wehmütig den Kopf. ,,Vergessen! – Alles wird vergessen!" sagte er. Und dann unterhielt man sich in der Stube von anderen Dingen; aber der kleinste Junge da drinnen, ein Kind mit großen, ernsten Augen, kletterte auf den Stuhl hinter den Vorhängen und blickte auf den Hof hinunter, wo der Mond hell auf den großen Stein schien, der ihm sonst immer leer und platt vorgekommen war, der aber jetzt dalag wie eine ganze große Seite aus einem Geschichtenbuch. Alles, was der Junge von Preben und dessen Ehefrau vernommen hatte, lebte in diesem Stein; und er sah ihn an, und er sah zu dem hellen, klaren Mond empor, in die reine, hohe Luft, und es war gerade, als ob Gottes Antlitz auf die Erde niederleuchtete.
,,Vergessen – Alles wird vergessen!" hieß es drinnen in der Stube, und in diesem Augenblick küßte ein unsichtbarer Engel Brust und Stirn des Jungen und flüsterte leise: "Bewahre das dir geschenkte Samenkorn gut auf, bewahre es auf für die Zeit der Reife! Durch dich, mein Kind, soll die verwischte Inschrift, der verwitternde Grabstein mit hellen, goldenen Zügen künftigen Geschlechtern vor Augen stehen! Das alte Ehepaar wird wieder Arm in Arm durch die alten Straßen wandeln und lächelnd mit frischen roten Wangen auf der steinernen Treppe unter der Linde sitzen und arm und reich zunicken. Das Samenkorn aus dieser Stunde wird mit den Jahren zu einer blühenden Dichtung aufgehen. Das Gute und das Schöne wird nicht vergessen, es lebt in Sagen und Liedern."

Hans Christian Andersen

Hälfte des Lebens

Hälfte des Lebens

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

Friedrich Hölderlin

Hermann und Dorothea

Hermann und Dorothea

Lächelnd sagte der Pfarrer: Des Todes rührendes Bild steht,
Nicht als Schrecken dem Weisen, und nicht als Ende dem Frommen.
Jenen drängt er ins Leben zurück, und lehret ihn handeln;
Diesem stärkt es, zu künftigem Heil, im Trübsal die Hoffnung;
Beiden wird zum Leben der Tod. Der Vater mit Unrecht
Hat dem empfindlichen Knaben den Tod im Tode gewiesen.
Zeige man doch dem Jüngling des edel reifenden Alters
Wert, und dem Alter die Jugend, daß beide des ewigen Kreises
Sich erfreuen und so sich Leben im Leben vollende!

Johann Wolfgang von Goethe

Havelland

Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland

Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,
Ein Birnbaum in seinem Garten stand,
Und kam die goldene Herbsteszeit
Und die Birnen leuchteten weit und breit,
Da stopfte, wenn’s Mittag vom Turme scholl,
Der von Ribbeck sich beide Taschen voll,
Und kam in Pantinen ein Junge daher,
So rief er:"Junge, wiste ne Beer?"
Und kam ein Mädel, so rief er:" Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick hebb ne Birn."

So ging es viel Jahre, bis lobesam
Der von Ribbeck auf Ribbeck zu sterben kam.
Er fühlte sein Ende, ‘s war Herbsteszeit,
Wieder lachten die Birnen weit und breit;
Da sagte von Ribbeck:"Ich scheide nun ab.
Legt mir eine Birne mit ins Grab!"
Und drei Tage drauf, aus dem Doppeldachhaus,
Trugen von Ribbeck sie hinaus.
Alle Bauern und Büdner mit Feiergesicht
Sangen "Jesus meine Zuversicht!"
Und die Kinder klagten, das Herze schwer:
"He is dod nu. Wer giwt uns nu ne Beer?"

So klagten die Kinder. Das war nicht recht –
Ach, sie kannten den alten Ribbeck schlecht!
Der neue freilich, der knausert und spart,
Hält Park und Birnbaum strenge verwahrt.
Aber der alte, vorahnend schon
Und voll Mißtrauen gegen den eigenen Sohn,
Der wußte genau, was damals er tat,
Als um eine Birn ins Grab er bat;
Und im dritten Jahr aus dem stillen Haus
Ein Birnbaumsprößling sprößt’ heraus.

Und die Jahre gehen wohl auf und ab,
Langst wölbt sich ein Birnbaum über dem Grab,
Und in der goldenen Herbsteszeit
Leuchtet’s wieder weit und breit,
Und kommt ein Jung übern Kirchhof her,
So flüstert’s im Baume: "Wiste ne Beer?"
Und kommt ein Mädel, so flüstert’s: "Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick gew di ne Birn!"

So spendet Segen noch immer die Hand
Des von Ribbeck auf Ribbeck in’ Havelland.

Theodor Fontane

Versoehnung

Versöhnung

Es ließe sich alles versöhnen,
Wenn keine Rechenkunst es will.
In einer schönen,
Ganz neuen und scheuen
Stunde spricht ein Bereuen
So mutig still.

Es kann ein ergreifend Gedicht
Werden, das kurze Leben,
Wenn ein Vergehen
Aus Frömmigkeit schlicht
Sein Innerstes spricht.

Zwei Liebende auseinandergerissen:
Gut wollen und einfach sein!
Wenn beide das wissen,
Kann ihr Dach wieder sein Dach sein
Und sein Kissen ihr Kissen.

Joachim Ringelnatz

Kleiner Ring

Kleiner Ring

Was unterscheidet
Götter von Menschen?
Daß viele Wellen
Vor jenen wandeln,
Ein ewiger Strom:
Uns hebt die Welle,
Verschlingt die Welle,
Und wir versinken.

Ein kleiner Ring
Begrenzt unser Leben,
Und viele Geschlechter
Reihen sich dauernd
An ihres Daseins
Unendliche Kette.

Johann Wolfgang Goethe

Lebenslauf

Lebenslauf

Größers wolltest auch du, aber die Liebe zwingt
All uns nieder, das Leid beuget gewaltiger,
Doch es kehret umsonst nicht
Unser Bogen, woher er kommt.

Aufwärts oder hinab! Herrschet in heilger Nacht,
Wo die stumme Natur werdende Tage sinnt,
Herrscht im schiefesten Orkus
Nicht ein Grades, ein Recht noch auch?

Dies erfuhr ich. Denn nie, sterblichen Meistern gleich,
Habt ihr Himmlischen, ihr Alleserhaltenden,
Daß ich wüßte, mit Vorsicht
Mich des ebenen Pfads geführt.

Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen,
Daß er, kräftig genährt, danken für Alles lern
Und verstehe die Freiheit
Aufzubrechen, wohin er will.

Friedrich Hölderlin

Hyperion

Hyperion

…Wir bedauern die Toten, als fühlten sie den Tod, und die Toten haben doch Frieden. Aber das, das ist der Schmerz, dem keiner gleichkömmt, das ist unaufhörliches Gefühl der gänzlichen Zernichtung, wenn unser Leben seine Bedeutung so verliert, wenn so das Herz sich sagt, du mußt hinunter und nichts bleibt übrig von dir; keine Blume hast du gepflanzt, keine Hütte gebaut, nur daß du sagen könntest: ich lasse eine Spur zurück auf Erden. Ach! Und die Seele kann immer so voll Sehnens sein, bei dem, daß sie so mutlos ist!…

Friedrich Hölderlin