Gegangen das geliebte Wesen

Gegangen das geliebte Wesen
Und jenseits des Schmerzes wisse
Kurzweil ist des Toten Wanderschaft
Den weißen Wolken endet keine Zeit

Wang Wei

Stammbuch

Stammbuchblatt für einen Unbekannten

Es erschreckt uns,
Unser Retter, der Tod. Sanft kommt er
Leis im Gewölke des Schlafs,

Aber er bleibt fürchterlich, und wir sehen nur
Nieder ins Grab, ob er gleich uns zur Vollendung
Führt aus Hüllen der Nacht hinüber
In der Erkenntnisse Land.

Friedrich Hölderlin

Herbst

Herbst
(1902)

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

Rainer Maria Rilke

Vom Tod

Vom Tod
(1947)

Ich hatte derart unerträgliche Zeiten durchzustehen, daß mir der Tod als etwas Köstliches erschien. Seither ist mir die Gewohnheit geblieben, ihn nicht zu fürchten und ihn auszuforschen, Auge in Auge.

Paul Eluard erstaunte mich, als er sein Erschrecken darüber äußerte, daß ich unter der Maske des Baron Fantôme, der zu Staub zerfällt, dem Tod die Stirn biete. Leben verwirrt mich mehr als Sterben. Ich habe weder Garros noch Jean Le Roy, weder Raymond Radiguet noch Jean Desbordes tot gesehen. Meine Mutter, Jean de Polignac, Jean Giraudoux, Edouard Bourdet sind die Toten, denen ich letzthin an ihrem Sterbelager begegnete. Mit Ausnahme von Jean de Polignac habe ich sie alle gezeichnet, und man ließ mich mit ihnen lange in ihren Zimmern allein. Ich habe sie ganz in der Nähe betrachtet, um den Konturen mit dem Blick zu folgen. Ich faßte sie an, ich bewunderte sie. Denn der Tod arbeitet seine Statuen sorgfältig aus. Er streicht ihre Falten glatt. Ich konnte mir noch so sehr einreden, daß sie das, was uns beschäftigt, nichts mehr angehe und daß ungeheuerliche Klüfte sie von mir trennten, ich verspürte gleichwohl, daß wir uns so nahe waren wie die zwei Prägeseiten einer Münze, die sich nicht kennen und doch nur durch die Dicke des Metalls voneinander geschieden sind.

Ginge es mir nicht allzu nahe, geliebte Menschen, die von mir noch einigen Bestand erhoffen können, zu verlassen, so würde ich voller Spannung erwarten, daß der Schlagschatten, der dem Tod vorausgeht, mich erreicht und sich immer mehr verkürzt. Ich würde einen überraschenden Gnadenstoß nicht schätzen und auch nicht, daß der Tod sein Geschäft weitschweifig hinzieht, bis zur äußersten Grenze, an der er uns endlich gnädig den Rest gibt. Ich möchte vielmehr von jenen, die mir nahestehen, Abschied nehmen können und mich vergewissern, daß mein Werk sich frohgemut anschickt, meinen Platz einzunehmen.
Von allem, was den Tod betrifft, stößt mich nichts ab, außer dem Pomp, mit dem man ihn umgibt. Bestattungen verleiden mir die Erinnerung. Beim Begräbnis von Jean Giraudoux sagte ich zu Lestringuez: "Gehen wir! Er ist nicht gekommen". Ich stellte mir vor, daß er in irgendeinem Keller des Palais Royal ins Spiel mit dem Billardautomaten versunken sei.
Die Leichenfeier für Bourdet war eisig. Es fror und die Fotografen bestiegen die Kanzel, um uns aufzunehmen und ihr Magnesium abzubrennen.

Das Hinscheiden meiner Mutter war auch für mich sanft gewesen. Sie war nicht kindisch geworden. Sie war in ihre Kindheit zurückgekehrt, sah mich wieder in der meinen, wähnte mich im Gymnasium, sprach mit mir in allen Einzelheiten über Maisons-Laffitte und härmte sich nicht ab. Der Tod brauchte ihr nur zuzulächeln und sie still bei der Hand zu nehmen. Aber unsre Begräbnisstätte, der Friedhof auf dem Montmartre, ist mir ein Ärgernis. Man stellt uns dort ab, wie in einem Schuppen. Und die Besoffenen, die über die Brücke torkeln, pissen auf uns herab.

Gestern besuchte ich einen Bergfriedhof. Mit seiner Handvoll Gräbern lag er unterm Schnee. Von ihm aus folgt der Blick der ganzen Alpenkette. Zwar erscheint’s mir
lächerlich, seine letzte Ruhestätte auszusuchen, aber ich dachte an mein Montmartreloch und bedauerte, daß man mich nicht hier oben in die Erde legt.
Nach dem Ableben von Jean Giraudoux veröffentlichte ich einen Abschiedsbrief, der mit den Worten schloß: "Ich werde nicht lange brauchen, um dich einzuholen". Man schalt mich wegen dieses Satzes, den man pessimistisch und mutlos fand. Er war es ganz und gar nicht. Ich wollte damit nur sagen, daß es sich, sollte ich auch hundert Jahre alt werden, nur um Minuten handeln kann. Das aber wollen die wenigsten Leute zugeben, die anderen sehen nicht, daß wir unseren Beschäftigungen nachgehen und Karten spielen in einem Expreßzug, der dem Tod entgegenjagt.

Wenn selbst Mutter Angelika in den Mauern von Port-Royal den Tod fürchtet, wer sollte ihn dann noch als Segen empfinden? Da ist’s schon besser, ihn festen Fußes zu erwarten. Es ist Selbsterniedrigung, wenn man nur ihn im Sinne hat, und schnöder Undank, wenn man sich entschuldigt, daß man existiere, als ob das Leben nur ein Versehen des Todes wäre. Werden denn diejenigen besser daran sein, die sich in eine Zelle einschließen und angstzitternd die Akten ihres Prozesses durchforschen? Das Gericht wird nicht danach fragen. Sein Urteilsspruch liegt von vornherein fest. Sie werden nur ihre Zeit vertrödelt haben.
Am besten verhält sich, wer die ihm zugestandene Zeit nützt und sich nicht damit abgibt, über sich selbst zu Gericht zu sitzen. Menschliche Dauer wird nur dem geschenkt, der sich den Augenblick zurechtknetet und ihm Bildgestalt verleiht und sich im übrigen nicht um den Urteilsspruch kümmert.
Ich hätte gar manches noch zu diesem Thema zu sagen und wundere mich nur, daß so viele Leute es sich über das Maß zu Herzen nehmen, denn schließlich wohnt der Tod ja beständig in uns, und so sollte man sich mit ihm abfinden. Weshalb denn dieses Heulen und Zähneklappern gegenüber einer Person, mit der man zusammenlebt und die unserem Wesen aufs innigste verbunden ist? Der Grund liegt auf der Hand. Man hat sich daran gewöhnt, aus dem Tod ein Schreckgespenst zu machen und ihn nach dem äußeren Anschein zu beurteilen. Man tut besser daran, wenn man sich sagt, daß man von Geburt an mit ihm verschwägert und verschwistert ist, und wenn man seine Wesensart hinnimmt, so hinterhältig sie auch sein mag. Denn er versteht’s, sich zu verheimlichen und uns glauben zu lassen, er bewohne nicht mehr sein Haus. Und doch beherbergt jeder seinen Tod und tröstet sich darüber mit dem Wahn hinweg, der Tod sei nur eine allegorische Figur, die erst am Schluß des letzten Akts erscheint.

Als erprobter Meister der Mimikry ist er selbst dann gegenwärtig, wenn wir ihn am fernsten glauben: in unserer Lebenslust. Er ist in unsrer Jugend. Er ist in unsrer Reife. Er ist in unsrer Liebe.
Je weniger Zeit mir noch verbleibt, desto mehr reckt er sich auf. Desto mehr macht er sich breit. Desto mehr hat er die Hand im Spiel. Desto emsiger geht er an seine Tüftelarbeit. Er gibt sich immer weniger Mühe, mich hinters Licht zu führen.
Sein großer Tag aber ist, wenn man Schluß macht. Dann tritt er aus uns heraus und schließt uns hinter sich ab.

Jean Cocteau

Wege

Wege

In wenigen Stunden
Hat Gott das Rechte gefunden.

Wie? Wann? Und Wo? – Die Götter bleiben stumm!
Du halte Dich ans Weil und frage nicht Warum?

Willst du ins Unendliche schreiten,
Geh nur im Endlichen nach allen Seiten.

Johann Wolfgang von Goethe

Wandrers Nachtlied

Wandrers Nachtlied

Der du von dem Himmel bist,
Alles Leid und Schmerzen stillest,
Den, der doppelt elend ist,
Doppelt mit Erquickung füllest,
Ach, ich hin des Treibens müde!
Was soll all der Schmerz und Lust?
Süßer Friede,
Komm, ach komm in meine Brust!

Johann Wolfgang Goethe

Trost

Trost

Wenn in langen trüben Stunden
Unser Herz beinah verzagt,
Wenn, von Krankheit überwunden,
Angst in unserm Innern nagt;
Wir der Treugeliebten denken,
Wie sie Gram und Kummer drückt,
Wolken unsern Blick beschränken,
Die kein Hoffnungsstrahl durchblickt,

O dann neigt sich Gott herüber,
Seine Liebe kommt uns nah,
Sehnen wir uns dann hinüber,
Steht ein Engel vor uns da,
Bringt den Kelch des frischen Lebens,
Lispelt Mut und Trost uns zu,
Und wir beten nicht vergebens
Auch für die Geliebten Ruh.

Novalis

Tristesse

Tristesse

 

 

J’ai perdu ma force et ma vie,

et mes amis et ma gaîté;

J‘ai perdu jusqu’à la fierté

Qui faisait croire à mon génie.

 

Quand j’ai connu la Vérité,

J’ai cru que c’était une amie;

Quand je l’ai comprise et sentie,

J’en étais déjà dégoûté.

 

Et pourtant elle est éternelle,

Et ceux qui se sont passés d’elle

Ici-bas ont tout ignoré.

 

Dieu parle, il faut qu’on lui réponde.

Le seul bien qui me reste au monde

Est d’avoir quelquefois pleuré.

 

                     Alfred de Musset

Zuflucht

Zuflucht noch hinter der Zuflucht
Für Peter Huchel

Hier tritt ungebeten nur der wind durchs tor
Hier ruft nur gott an

Unzählige leitungen läßt er legen
vom himmel zur erde

Vom dach des leeren kuhstalls
aufs dach des leeren schafstalls
schrillt aus hölzerner rinne
der regenstrahl

Was machst du, fragt gott

Herr, sag ich, es
regnet, was
soll man tun

Und seine antwort wächst
grün durch alle fenster

Reiner Kunze

Grabinschrift

Grabinschrift

I
An nichts litt er in dieser Welt so sehr
Wie an seinem Hühnerauge.
Sogar, daß er häßlich war,
Störte ihn nicht sonderlich.
Wenn seine Schuhe zufällig nicht drückten,
Dachte er nicht gleich an den Namen Gottes,
Aber ungläubig konnte man ihn auch nicht nennen.
Schade um Süleyman Efendi.

II
Kein Problem und keine Frage war
To be or not to be für ihn.
Eines Abends schlief er ein
Und wachte nicht mehr auf.
Man nahm ihn und trug ihn fort.
Man wusch ihn, sprach das Totengebet, er wurde begraben.
Wenn seine Gläubiger von seinem Tod hören,
Werden sie ihm sicher gern seine Schulden erlassen.
Was seine Forderungen betrifft,
Forderungen hatte der Selige keine.

III
Sein Gewehr brachte man ins Depot.
Seine Kleider bekam ein anderer.
In seinem Leinensack keine Kruste Brot,
Keine Spur seiner Lippen mehr an seiner Wasserflasche.
Ein Wind,
Weggeweht.
Nicht einmal sein Name blieb als Erinnerung.
Nur dieser Zweizeiler
Am Kamin des Cafés in seiner Handschrift:
"Der Tod ist Gottes Gebot,
Wenn er nur keine Trennung wäre."

Rhan Veli Kanik
(Übertragung: Yüksel Pazarkaya)