In weite Ferne gehen

IN WEITE Ferne gehen Hügel: Menschenköpfe,
Mich wird man nicht mehr sehn, ich werd verschwindend klein-
Und doch, in Kinderspielen, Büchern, zärtlichen Geschöpfen
Werd ich einst auferstehend sagen, daß die Sonne scheint.

Ossip Mandelstam

Traurigkeit

Traurigkeit

Die mir noch gestern glühten,
Sind heut dem Tod geweiht,
Blüten fallen um Blüten
Vom Baum der Traurigkeit.

Ich seh sie fallen, fallen
Wie Schnee auf meinen Pfad,
Die Schritte nicht mehr hallen,
Das lange Schweigen naht.

Der Himmel hat nicht Sterne,
Das Herz nicht Liebe mehr,
Es schweigt die graue Ferne,
Die Welt ward alt und leer.

Wer kann sein Herz behüten
In dieser bösen Zeit?
Es fallen Blüten um Blüten
Vom Baum der Traurigkeit.

Hermann Hesse

Grabschrift des Boethius

Grabschrift des Boethius auf seine erste Frau, Helpes
(ca. 510 n. Chr.)

Ich, die ich Elpes hieß, war ein sizilisch Kind,
Doch hat mein Ehgemahl mein Wohnhaus weit versetzet,
Ohn den mich weder Tag, noch Nacht, noch Stund ergötzet;
Der war mein Geist und Fleisch, wie recht Verliebte sind.
Dieweil denn er noch lebt, bin ich nicht ganz davon.
Mein größtes Seelenteil wird von mir übrig bleiben,
Mein Leichnam ruht, als fremd in diesen heilgen Läuben,
Und harrt, zum Zeugnis fort, auf Gottes Richterthron.
Niemand berühr mein Grab, es sei denn daß dabei
Mein Liebster seinen Leib zu meinem wolle fügen;
Daß wir zugleich allhier, wie vor im Bette liegen,
Und unser Staub verknüpft, wie unser Leben, sei.

Luicius Severinus Boethius von Rom
(übertragen von Melmont)

Laeja

Laeja und Lingeo

Eine Frau gebar einen Knaben. Am gleichen Tage wollte man ihm einen Namen geben. Der Knabe sagte: "Laßt, ich weiß alles sehr gut. Ich will Lingeo heißen." Der Knabe schlief drei Tage, dann war er ein ausgewachsener Mann. Am fünften Tage sagte sein Vater Laeja: "Wir wollen in den Busch gehen, um Früchte der Mba (Ngaschi-Palme) zu schlagen." Sie gingen in den Busch. Jeder ging in eine andere Richtung. Nach einiger Zeit fand Laeja zwei Bäume; der eine hatte zwei, der andere vier Fruchtbündel. Laeja rief: "Lingeo, komm!" Lingeo sagte: "Ich weiß schon, du hast zwei Mba gefunden; der eine Baum hat zwei, der andere Baum vier Fruchtbündel." Laeja sagte (für sich): "Was ist das für ein Knabe, der das alles weiß? Er ist geboren, er spricht; er ist drei Tage alt, da ist er erwachsen! Was soll das bedeuten?"

Lingeo kam. Er stieg auf eine Mba. Er schlug die Blätter. Er wollte die Früchte abhacken. Lingeo rief: "Vater, geh beiseite, daß die Früchte dich nicht treffen!" Laeja sagte: "Ich weiß". Die Früchte stürzten herab und trafen Laeja auf den Kopf. Sie zerdrückten Laeja. Laeja starb. Aber Laeja hatte ein starkes Zaubermittel. Laeja teilte sich. Der eine Laeja blieb unter dem Palmbaum liegen, der andere Laeja ging schnell ins Dorf. Lingeo sah ihn nicht.

Lingeo rief: "Vater!" Der Vater antwortete nicht. Lingeo rief nochmals: "Vater!"
Laeja antwortete nicht. Lingeo stieg vom Baum herab. Lingeo fand den Vater unter dem Baume tot. Lingeo lief schnell in das Dorf. Er traf den andern Laeja. Er war lebend und gesund und fegte das Dorf. Lingeo lief schnell in den Wald zurück. Da lag Laeja und war gestorben. Lingeo lief schnell in das Dorf. Da sah er Laeja die Wege fegen. Lingeo lief fünf- bis sechsmal hin und her und verglich die beiden Laeja. Endlich blieb er vor dem Laeja im Dorf stehen und fragte: "Bist du mein Vater?" Laeja sagte: "Du weißt ja alles. Ich hin nicht dein Vater. Dein Vater ist im Wald gestorben." Lingeo lief zu seiner Mutter und sagte: "Im Wald ist mein Vater von Mbafrüchten erschlagen. Der Mann hier hat die gleichen Augen, Mund, Nase, Ohren, Arme, Füße. Ist er mein Vater?" Die Mutter sagte: "Du sagtest: ‘Ich weiß alles’. Weißt du dieses nicht?"

Afrikanische Märchen
(Bassonge)

Todesfuge

Todesfuge

Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar
Margarete
er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne
er pfeift seine Rüden herbei
er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde
er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar
Margarete
Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften
da liegt man nicht eng

Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt
er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau
stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr andern spielt weiter zum Tanz auf

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen

Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland
er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland
wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft
er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister
aus Deutschland
dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith

Paul Celan

Klage

Klage

Er war mein Nord, mein Süd,
mein Ost und West,
Meine Arbeitswoche
und mein Sonntagsfest,
Mein Gespräch, mein Lied,
mein Tag, meine Nacht,
Ich dachte, Liebe währet ewig:
Falsch gedacht.

Die Sterne sind jetzt unerwünscht,
löscht jeden aus davon,
Verhüllt auch den Mond
und nieder reißt die Sonn’,
Fegt die Wälder zusammen
und gießt aus den Ozean,
Weil nun nichts mehr
je wieder gut werden kann.«

Haltet alle Uhren an,
laßt das Telefon abstellen,
Hindert den Hund daran,
den saftigen Knochen anzubellen,
Klaviere sollen schweigen,
und mit gedämpftem Trommelschlag,
Laßt die Trauernden nun kommen,
tragt heraus den Sarg

Laßt Flugzeuge kreisen,
klagend im Abendrot,
An den Himmel schreibend
die Botschaft. Er ist tot;
Laßt um die weißen Hälse der Tauben
Kreppschleifen schlagen
Und Verkehrspolizei schwarze
Baumwollhandschuh’ tragen.

W.H. Auden

Stoppt jede Uhr

Stoppt jede Uhr, laßt ab vom Telephon,
Verscheucht den Hund, der bellend Knochen frißt, die roh’n.
Laßt schweigen die Pianos und die Trommeln schlagt,
Bringt heraus den Sarg, ihr Klager klagt.

Laßt die Flieger kreisend – Trauer sei Gebot
An den Himmel schreiben: Er ist tot.
Straßentauben gebt um den Hals starre Kreppkragen,
Polizisten laßt schwarze Handschuh’ tragen.

Er war mir Nord, mir Süd, mir Ost und West;
Des Sonntags Ruh’ und der Woche Streß
Mein Tag, mein Gesang, meine Rede, meine Nacht.
Ich dachte, Liebe währet ewig – falsch gedacht.

Sterne sind jetzt unerwünscht, will nichts sehn davon,
Verpackt den Mond, zertrümmert die Sonn’.
Fegt weg den Wald und des Meeres Flut,
Nie wird es sein, so wie es war. Nie wieder gut.

Übersetzung aus Vier Hochzeiten und ein Todesfall 

Lieder Ingeborg Bachmann

Lieder von einer Insel
(1954)


Wenn einer fortgeht, muß er den Hut
mit den Muscheln, die er sommerüber
gesammelt hat, ins Meer werfen
und fahren mit wehendem Haar,
er muß den Tisch, den er seiner Liebe
deckte, ins Meer stürzen,
er muß den Rest des Weins,
der im Glas blieb, ins Meer schütten,
er muß den Fischen sein Brot geben
und einen Tropfen Blut ins Meer mischen,
er muß sein Messer gut in die Wellen treiben
und seinen Schuh versenken,
Herz, Anker und Kreuz,
und fahren mit wehendem Haar!
Dann wird er wiederkommen.
Wann?
Frag nicht.

Ingeborg Bachmann

Klage

Klage

Uns ist kein Sein vergönnt. Wir sind nur Strom,
Wir fließen willig allen Formen ein:
Dem Tag, der Nacht, der Höhle und dem Dom,
Wir gehn hindurch, uns treibt der Durst nach Sein.

So füllen Form um Form wir ohne Rast.
Und keine wird zur Heimat uns, zum Glück, zur Not,
Stets sind wir unterwegs, stets sind wir Gast,
Uns ruft nicht Feld noch Pflug, uns wächst kein Brot.

Wir wissen nicht, wie Gott es mit uns meint,
Er spielt mit uns, dem Ton in seiner Hand,
Der stumm und bildsam ist, nicht lacht noch weint,
Der wohl geknetet wird, doch nie gebrannt.

Einmal zu Stein erstarren! Einmal dauern!
Danach ist unsre Sehnsucht ewig rege,
Und bleibt doch ewig nur ein banges Schauern,
Und wird doch nie zur Rast auf unsrem Wege.

Hermann Hesse

Sterbelied

Mein Sterbelied:

"Bin welk und mürbe –
Mir ist, als ob ich stürbe –
Ja, gestorben bin."

Entblättert ist mein Sinn –
Das Licht meiner Augen trübe.

Der Himmel meiner Liebe
Sank in die Grube,
In mein steiles Kinn.

Es blühen in meiner Stube
Deine Lieblingsblumen zwischen Immergrün
Und meinem Rosmarin.

Doch alle beglückenden Farben
Seit meines Lebens Anbeginn
Aus meinem Leben entfliehn,

Die mich ganz bunt umwarben –
Starben…

Um mit dem Wolkenbild
In die Himmlischkeit zu ziehn.

Else Lasker-Schüler

Ich beginne zu sprechen vom Tod

Ich beginne zu sprechen vom Tod
(1922)

I
Ich beginne zu sprechen vom Tod
Viele Irrglauben sind verbreitet
Aber wenn man den Wunsch von der Furcht abscheidet
Kommt uns die erste Ahnung von dem, was uns droht

Die Welt gewinnt, wer das vergißt:
Daß der Tod ein halber Atemzug ist

2
Denn das ist kein Atemzug
Den zu tun noch uns dann verbleibt
Und das ist nicht das Genug
Sondern es ist das Zuwenig, was uns den Angstschweiß austreibt

Weise ist, wer darin irrt
Und meint, daß er sterbend fertig wird

3
Die Dinge sind, wie sie sind
Ein Gaumen ist immer ein Gaumen, ein Daumen ein Daumen
Aber deinem japsenden Gaumen
Langt nicht ein Wirbelwind

Dein Hals ist angesägt und leck
Dein Atem pfeift aus dem Spalt hinweg

4
Dieses wächserne Grubenlicht
Diese steifen Finger auf deinen Leinen
Die Esser um dich mit dem kalten Weinen
Glaub nicht, du merkst sie nicht

Was da um dich steht und da so weint
Das war der Mensch, das war dein Feind

5
Du kannst ihn nicht fressen mehr
Deine Zähne sind lang wie Rechen
Aber die werden die Nacht noch brechen
Also bleibt dir von nun an der Magen leer

Bertold Brecht