Für die meisten kommt Erbe zu spät
Noch nie ist in der Schweiz so viel Geld vererbt worden wie heute fast 30 Milliarden Franken pro Jahr. Doch die meisten erben erst, wenn sie es nicht mehr nötig haben.
Erbschaften haben in der Schweiz eine grosse volkswirtschaftliche Bedeutung: 28,5 Milliarden Franken werden jährlich auf diese Weise umgeschichtet. Die Schweizerinnen und Schweizer erben somit mehr, als sie selber ersparen. Dennoch wurde das Hinterlassen bislang kaum wissenschaftlich untersucht. Jetzt liegt aber eine umfassende Studie vor, die der Nationalfonds in Auftrag gegeben hat und die in diesen Tagen in den Buchhandel kommt.
Interessant ist vor allem, welche Altersgruppen in den Genuss der Erbschaften kommen: Es sind in erster Linie die über 50-Jährigen. Ein Drittel aller Erbenden ist sogar bereits pensioniert. Das war nicht immer so: 1980 ging noch fast die Hälfte der Erbschaften an unter 50-Jährige. Heute kriegt diese Altersgruppe nur noch ein Drittel der vererbten Summe. Und im Jahr 2020 dürfte es gar nur noch ein Fünftel sein.
Damit verlagert sich das Erben immer mehr in jene Lebensphase, in der man das Geld eigentlich nicht mehr nötig hätte. Dafür fehlt es in der Familienphase, wenn die Kosten für die Kinder am höchsten sind und die Hypothekarzinsen drücken.
Als Folge davon konzentrieren sich die Vermögen hier zu Lande wie in kaum einem anderen Staat in der Rentnergeneration. Werden sie vererbt, geschieht dies in der Regel steuerfrei. Denn die meisten Kantone haben die Erbschaftssteuern für direkte Nachkommen abgeschafft. Und die Chancen für eine Wiedereinführung stehen schlecht. Nur ein Viertel der Schweizerinnen und Schweizer so ergab eine Umfrage sind für das Besteuern von Erbschaften. Dabei fällt auf, dass sich in erster Linie gut Ausgebildete dafür aussprechen (40 Prozent) ironischerweise also jene, die am ehesten in den Genuss einer Erbschaft kommen.
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Ein Drittel geht beim Erben leer aus
Die Erbschaften sind äusserst ungleich verteilt: Während die obersten zehn Prozent drei Viertel der gesamten Summe absahnen, kann ein Drittel der Bevölkerung gar nichts erben.
Fast drei Prozent des Vermögens werden in der Schweiz jährlich mittels Erbschaften umverteilt. Wer wie viel an wen vererbt, war bisher aber weit gehend unbekannt. Nun ist die wissenschaftliche Lücke im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 52 geschlossen worden: Das Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (Bass) hat eine Fülle von Daten zusammengetragen und in einem Buch publiziert, das jetzt in den Handel kommt.
Danach vererbte eine Erblasserin oder ein Erblasser im Jahr 2000 durchschnittlich 456 000 Franken. Weil meist mehrere Erben beteiligt waren, ist deren Erbsumme nicht ganz so gross – nämlich 178 700 Franken. Auch hier handelt es sich um einen Durchschnittswert. Effektiv verteilen sich die Erbschaften äusserst ungleich auf die Bevölkerung: Gut die Hälfte der Erbenden teilen sich lediglich zwei Prozent der Gesamtsumme, wobei ein Drittel ganz leer ausgeht. Auf der anderen Seite erhalten die obersten zehn Prozent drei Viertel aller vererbten Vermögen.
Auch beim Erben ein Röstigraben
Dabei gilt – wie so oft im Leben – das Matthäus-Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben. Akademiker erben im Schnitt deutlich mehr als Handwerker und diese wiederum deutlich mehr als solche, die keine Berufslehre gemacht haben. Interessant ist ferner, dass es auch beim Erben einen Röstigraben gibt: «In der Westschweiz sind die individuellen Chancen zu erben nur halb so gross wie in der Deutschschweiz», schreiben die Forscher und führen dies auf die generell geringeren Vermögen in der Romandie zurück.
Gesamtschweizerisch wurden im Jahr 2000 laut der Nationalfondsstudie 28,5 Milliarden Franken vererbt, was 6,8 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) entspricht. Die Schweiz liegt damit im internationalen Vergleich weit vorne. In Deutschland machen die Erbschaften zum Beispiel nur 2 Prozent des BIP aus. Die Differenz erklärt sich zum einen durch die Tatsache, dass hier zu Lande im Zweiten Weltkrieg weit weniger Vermögen vernichtet wurden. Zum andern konzentriert sich das Geld in der Schweiz viel stärker in der Rentnergeneration, wodurch es schneller wieder vererbt wird.
Heidi Stutz, Tobias Bauer, Susanne Schmugge: Erben in der Schweiz. Eine Familiensache mit volkswirtschaftlichen Folgen. Verlag Rüegger, 288 Seiten, 48 Franken.
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Für Patchwork-Familien ist das Erbrecht ungerecht
Stiefkinder und unverheiratete Lebenspartner gehen beim Erben leer aus, wenn ein Testament fehlt. Das wird immer mehr zum Problem.
Bern. – Das Schweizer Erbrecht vermag mit dem realen Leben nicht mitzuhalten. Vor allem so genannte Patchwork-Familien empfinden die heutigen Regeln als ungerecht. Danach haben unverheiratete Lebenspartner und Stiefkinder kein Anrecht auf eine Erbschaft, wenn ein Testament fehlt. Selbst wenn ein solches vorliegt, müssen die Pflichtteile für die leiblichen Kinder eingehalten werden.
Doch damit nicht genug: Stiefkinder und unverheiratete Lebenspartner werden bei den Erbschaftssteuern überdies weit stärker zur Kasse gebeten als Eheleute und leibliche Kinder. Dies widerspricht dem Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung. Eine Umfrage der Erbschaftsforscher zeigt, dass für die meisten Schweizerinnen und Schweizer die reale Nähe zur verstorbenen Person entscheidend ist – nicht eine Formalität wie ein Ehevertrag oder ein bestimmter Verwandtschaftsgrad.
Das Gerechtigkeitsempfinden des Volks unterscheidet somit kaum zwischen klassischer Familie und neuen Lebensformen. Wohl aber das Gesetz. Dieses ist immer noch auf die traditionelle Familie zugeschnitten und genügt den heutigen Lebensrealitäten nicht mehr. Das Problem dürfte sich in Zukunft gar noch verschärfen. Denn der Anteil der Patchwork-Familien nimmt ständig zu.
Bereits heute wächst jedes fünfte Schweizer Kind nicht mit beiden Elternteilen auf. Doch die Schweizer Politik hat noch nicht auf dieses Problem reagiert. Ganz anders in Deutschland: Dort wird diskutiert, ob man die Pflichtteile abschaffen soll. So wären die Erblasser frei, wem sie ihr Vermögen zukommen lassen möchten. Wie in England.
Nur jeder Vierte schreibt Testament
Bereits heute verfassen vor allem Ledige und Mitglieder von Patchwork-Familien ein Testament. In klassischen Familien ist dies dagegen eher die Ausnahme. Insgesamt hält ein Viertel der Erblasser ihren letzten Willen schriftlich fest – je mehr jemand zu vererben hat, desto eher. Aber auch in Millionärskreisen verfasst nur etwas mehr als die Hälfte ein Testament. Die meisten Erblasser (93 Prozent) möchten ohnehin allen Kindern gleich viel zukommen lassen – wohl auch, um Streit zu vermeiden.
Insgesamt fliessen 58 Prozent der vererbten Summen an die Kinder. Zählt man den Anteil der Ehepartner (16 Prozent) hinzu, bleiben drei Viertel in der engsten Familie. Vergleichsweise selten können dagegen Hilfswerke und andere Organisationen von Erbschaften profitieren. Sie teilen sich 4 Prozent des Kuchens. Bei insgesamt mehr als 28,5 Milliarden Franken macht dies aber immer noch über 1 Milliarde Franken aus. Viele Hilfswerke haben daher inzwischen ein professionelles Legate-Marketing aufgezogen – und setzen damit auf einen Wachstumsmarkt. Denn die Erbsummen werden auch in den nächsten Jahren weiter steigen.